As the curator of the exhibition, I
was asked to introduce Expanded Horizons during the opening reception at
Fabian & Claude Walter. Please find the text below (only in
German):
Es gibt ein haitianisches Sprichwort, “Dèyè mòn gen mòn”, oder auf Deutsch “hinter den Bergen, mehr Berge.” Daran musste ich immer wieder denken, als ich in die Schweiz kam. Haiti, oder Ayiti in der Sprache der Ureinwohner, stand für “bergige Insel”. Auch die Schweiz ist natürlich in gewisser Weise eine Insel mit Bergen. Und es gab nicht wenige Fotografen, denen der Horizont im Aufbruch der Nachkriegsjahre hier zu kurz war, die sich sozial und geografisch eingeengt fühlten, die sprichwörtlich das Weite suchten, um der Welt Bilder abzuringen, mit dem Potenzial, die Berge abzubauen, die uns nach den Katastrophen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts noch immer trennten, die mit offenem und realistischem aber auch romantischem und optimistischem Blick in die Zukunft schauen wollten …
Ich selbst bin in der DDR aufgewachsen. Auch die war ein kleines Land. Und mit Mauer und Reisebeschränkungen war es nicht so einfach dieses Land zu verlassen. Das machte die Sehnsucht, die weite Welt zu sehen, aber nicht gerade geringer. Im Gegenteil. Schon bald nach dem Fall der Mauer suchte auch ich das Weite, suchte auch ich neue Horizonte. Und im Kopf hatte ich dabei auch immer Bilder von Fotografen und Fotografinnen, die meine Sehnsucht visuell ausdrückten. Da gibt es zum Beispiel dieses Bild der großen ostdeutschen Fotografin Evelyn Richter von 1972, welches ein Schubboot namens „Traumland“ auf der Berliner Spree zeigt. Am Ufer steht ein Vater, der mit seinem Sohn das vorbeifahrende Schiff betrachtet. Seitdem ich das Bild—noch als Kind—zum ersten Mal gesehen habe, hat es mich stark beschäftigt und beeinflusst. Gerade die ostdeutschen Fotografen waren ja auch Meisterinnen der Mehrdeutigkeiten, der Metaphern und der Symbolik. Beim Betrachten des Fotos sah ich mich selbst dort als Sohn des Vaters am Ufer stehen, sehnsüchtig und romantisch-verklärt dem Schiff nachschauend, mit der tief sitzenden Befürchtung, dass die Schiffe vielleicht zeit meines Lebens an mir vorbei dem Horizont entgegenfahren würden, dass das sprichwörtliche „Traumland“ an mir vorbeischwimmt und nie Heimat wird. So visuell sozialisiert und in der fotografischen Bildsprache und ihren Erzählweisen geschult, empfand ich später neben den amerikanischen und französischen Fotografen des 20. Jahrhunderts, eben vor allem auch die hier versammelten Schweizer als seelenverwandt und wegweisend. Auch ihre Fotografien erzählen uns nicht nur, was sich im Moment der Aufnahme vor der Kamera befand, sondern sie haben eben auch eine tiefere poetische oder kritische Ebene. Auch hier steckt zwischen den Zeilen genauso viel Bedeutung, wie in der formalen Darstellung des abgelichteten Geschehens.
Angefangen mit dem presse-skeptischen Werner Bischof, versagen sich diese Fotografen oft effekthaschender Spektakel für die kurzlebigen news cycles und hadern mit der doppelschneidigen Bildnachfrage illustrierter Magazine. Stattdessen versuchten sie sich durch eine subtile, unkonventionelle und oft experimentelle Bildsprache zu emanzipieren und dabei Mehrdeutigkeiten zu erzeugen, die auch ihrer komplexer werdenden Welt entsprachen. So lieferten sie uns aktuelle und zeitlose, poetische und politische Bilder nach Hause.
Auf diese Weise bekamen wir beispielsweise das Foto René Burris von Che Guevara zu sehen, auf dem sich der Revolutionär bei einem Interview mit einer amerikanischen Journalistin frustriert die Augen reibt -Revolution trägt man im Herzen und nicht auf den Lippen. Oder da sind die Telefonleitungen aus René Groeblis „Magie der Schiene“ auf denen die Sonne wie eine einsame Note sitzt und man geneigt ist, über die Schnelllebigkeit unserer Zeit zu sinnieren, genau so, wie bei der Momentaufnahme von Michiko und ihrer Freundin in Tokyo, von Werner Bischof fotografiert, die trotz schnellen Schrittes im Vordergrund von einem rennenden Kind überholt werden. Oder Robert Franks „Canal Street, New Orleans“, einem Bild das aufzeigt, wie freiheitsliebende Amerikaner gesellschaftlich völlig fragmentiert sind und dabei doch immer nur in zwei Richtungen gehen, hin und her. Mit Robert Frank kam ja ein Fotograf aus der ihm zu engen Schweiz in die Welt, der radikaler und tiefer blickend war und dessen Kamera sich zurück auf uns selbst richtete. Diesen kritischen Blick empfand man nicht nur im selbstzufriedenen Amerika der Nachkriegsjahre als unanständig und unbequem.
Mit der kunstgeschichtlich oft sehr amerikanisch geprägten Sicht auf die Nachkriegsfotografie und der damit oft einhergehenden Deklaration vom Ende der zumeist kollektiv organisierten und solidarisierenden Concerned Photography, werden die MAGNUM Fotografen um Robert Capa und Werner Bischof immer noch etwas marginalisiert, obwohl gerade sie die Concerned Photography in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts hinüberretteten. Und so starb zum Glück ihr Anspruch an die dokumentarische Fotografie nicht so verfrüht, wie sie selbst, so tragisch kurz hintereinander im Jahre 1954, denn gerade auch der etwas jüngere René Burri fotografierte dann in den Fußspuren dieser humanistischen Auffassung von Fotografie. Ja, beim Betrachten seiner Bilder hat man oft regelrecht das Gefühl, als wolle er die ganze Welt mit seiner Kamera umarmen.
Darüber hinaus zeigt sich das Überleben engagierter Fotografie aber auch daran, dass die Arbeiten dieses Genres extrem nachhaltig sind, denn noch heute erkennen wir uns—leider und zum Glück—in ihren Bildern wieder, sind sie doch schon lange in das eingegangen, was man im Englischen the collective memory nennt. Daraus schöpften dann auch nachfolgende Generationen von Fotokünstlern Mut, Kraft und Inspiration. Und so stehen Balthasar Burkhard und seine großformatigen Fotografien exemplarisch für die Schweizer Fotografen, die als „nächste“ Generation das Momentum der Nachkriegsfotografen aufgenommen und verinnerlicht haben, und die auch versuchten, prägend statt nur geprägt fotografisch zu wirken und sich dabei dann auch nicht von echten oder sprichwörtlichen Bergen aufhalten ließen.
Gefragt, warum ich nun in Zeiten täglicher Kunstbilderberge eine eher klassische Fotoausstellung mit vergleichsweise ruhigen Schwarz-Weiss-Fotografien etablierter Künstler kuratiere, antworte ich auch hier mit “Dèyè mòn gen mòn “ ... denn nach jeder Generation, die die Arbeiten wegweisender und geschichtsschreibender Fotografen kennen- und schätzen gelernt hat, kommt auch wieder eine junge Generation, deren geschichtlicher und kunsthistorischer Wissensstand bei Null anfängt. Und statt Ihnen immer nur wieder atemlos gegenwärtigste künstlerische Positionen mit den aktuellsten bildgebenden und bildvermittelnden Technologien vorzusetzen, bin ich eher geneigt, periodisch aufzuzeigen, woher die Fotografie kommt und welche künstlerische Positionen sie beeinflusst hat—und umgekehrt—, aus welchem Kontext und welcher Geschichte sie sich zu dem entwickelt hat, was sie heute ist ... oder eben auch damit zu hinterfragen, wohin sie sich vielleicht in unserem Zeitalter der ständigen Inszenierungen und der Selfies verirrt hat. Ich glaube nämlich auch, wie die hier versammelten Fotografen, weiterhin an das Potenzial der Kunst und insbesondere der Fotografie, unser Weltbild und damit unsere Einstellung gegenüber abgebildeten Menschen, Ereignissen und Orten konstruktiv zu beeinflussen. Ich glaube, dass die Fotografie in der Vergangenheit des abgelichteten Augenblicks einen Funken Utopie trägt ... dass sie uns zeigt, dass irgendwo hinter den Bergen das Meer liegt!
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René Burri: Cuba (1963), © Rene Burri/Magnum Photos |
Es gibt ein haitianisches Sprichwort, “Dèyè mòn gen mòn”, oder auf Deutsch “hinter den Bergen, mehr Berge.” Daran musste ich immer wieder denken, als ich in die Schweiz kam. Haiti, oder Ayiti in der Sprache der Ureinwohner, stand für “bergige Insel”. Auch die Schweiz ist natürlich in gewisser Weise eine Insel mit Bergen. Und es gab nicht wenige Fotografen, denen der Horizont im Aufbruch der Nachkriegsjahre hier zu kurz war, die sich sozial und geografisch eingeengt fühlten, die sprichwörtlich das Weite suchten, um der Welt Bilder abzuringen, mit dem Potenzial, die Berge abzubauen, die uns nach den Katastrophen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts noch immer trennten, die mit offenem und realistischem aber auch romantischem und optimistischem Blick in die Zukunft schauen wollten …
Ich selbst bin in der DDR aufgewachsen. Auch die war ein kleines Land. Und mit Mauer und Reisebeschränkungen war es nicht so einfach dieses Land zu verlassen. Das machte die Sehnsucht, die weite Welt zu sehen, aber nicht gerade geringer. Im Gegenteil. Schon bald nach dem Fall der Mauer suchte auch ich das Weite, suchte auch ich neue Horizonte. Und im Kopf hatte ich dabei auch immer Bilder von Fotografen und Fotografinnen, die meine Sehnsucht visuell ausdrückten. Da gibt es zum Beispiel dieses Bild der großen ostdeutschen Fotografin Evelyn Richter von 1972, welches ein Schubboot namens „Traumland“ auf der Berliner Spree zeigt. Am Ufer steht ein Vater, der mit seinem Sohn das vorbeifahrende Schiff betrachtet. Seitdem ich das Bild—noch als Kind—zum ersten Mal gesehen habe, hat es mich stark beschäftigt und beeinflusst. Gerade die ostdeutschen Fotografen waren ja auch Meisterinnen der Mehrdeutigkeiten, der Metaphern und der Symbolik. Beim Betrachten des Fotos sah ich mich selbst dort als Sohn des Vaters am Ufer stehen, sehnsüchtig und romantisch-verklärt dem Schiff nachschauend, mit der tief sitzenden Befürchtung, dass die Schiffe vielleicht zeit meines Lebens an mir vorbei dem Horizont entgegenfahren würden, dass das sprichwörtliche „Traumland“ an mir vorbeischwimmt und nie Heimat wird. So visuell sozialisiert und in der fotografischen Bildsprache und ihren Erzählweisen geschult, empfand ich später neben den amerikanischen und französischen Fotografen des 20. Jahrhunderts, eben vor allem auch die hier versammelten Schweizer als seelenverwandt und wegweisend. Auch ihre Fotografien erzählen uns nicht nur, was sich im Moment der Aufnahme vor der Kamera befand, sondern sie haben eben auch eine tiefere poetische oder kritische Ebene. Auch hier steckt zwischen den Zeilen genauso viel Bedeutung, wie in der formalen Darstellung des abgelichteten Geschehens.
Angefangen mit dem presse-skeptischen Werner Bischof, versagen sich diese Fotografen oft effekthaschender Spektakel für die kurzlebigen news cycles und hadern mit der doppelschneidigen Bildnachfrage illustrierter Magazine. Stattdessen versuchten sie sich durch eine subtile, unkonventionelle und oft experimentelle Bildsprache zu emanzipieren und dabei Mehrdeutigkeiten zu erzeugen, die auch ihrer komplexer werdenden Welt entsprachen. So lieferten sie uns aktuelle und zeitlose, poetische und politische Bilder nach Hause.
Auf diese Weise bekamen wir beispielsweise das Foto René Burris von Che Guevara zu sehen, auf dem sich der Revolutionär bei einem Interview mit einer amerikanischen Journalistin frustriert die Augen reibt -Revolution trägt man im Herzen und nicht auf den Lippen. Oder da sind die Telefonleitungen aus René Groeblis „Magie der Schiene“ auf denen die Sonne wie eine einsame Note sitzt und man geneigt ist, über die Schnelllebigkeit unserer Zeit zu sinnieren, genau so, wie bei der Momentaufnahme von Michiko und ihrer Freundin in Tokyo, von Werner Bischof fotografiert, die trotz schnellen Schrittes im Vordergrund von einem rennenden Kind überholt werden. Oder Robert Franks „Canal Street, New Orleans“, einem Bild das aufzeigt, wie freiheitsliebende Amerikaner gesellschaftlich völlig fragmentiert sind und dabei doch immer nur in zwei Richtungen gehen, hin und her. Mit Robert Frank kam ja ein Fotograf aus der ihm zu engen Schweiz in die Welt, der radikaler und tiefer blickend war und dessen Kamera sich zurück auf uns selbst richtete. Diesen kritischen Blick empfand man nicht nur im selbstzufriedenen Amerika der Nachkriegsjahre als unanständig und unbequem.
Mit der kunstgeschichtlich oft sehr amerikanisch geprägten Sicht auf die Nachkriegsfotografie und der damit oft einhergehenden Deklaration vom Ende der zumeist kollektiv organisierten und solidarisierenden Concerned Photography, werden die MAGNUM Fotografen um Robert Capa und Werner Bischof immer noch etwas marginalisiert, obwohl gerade sie die Concerned Photography in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts hinüberretteten. Und so starb zum Glück ihr Anspruch an die dokumentarische Fotografie nicht so verfrüht, wie sie selbst, so tragisch kurz hintereinander im Jahre 1954, denn gerade auch der etwas jüngere René Burri fotografierte dann in den Fußspuren dieser humanistischen Auffassung von Fotografie. Ja, beim Betrachten seiner Bilder hat man oft regelrecht das Gefühl, als wolle er die ganze Welt mit seiner Kamera umarmen.
Darüber hinaus zeigt sich das Überleben engagierter Fotografie aber auch daran, dass die Arbeiten dieses Genres extrem nachhaltig sind, denn noch heute erkennen wir uns—leider und zum Glück—in ihren Bildern wieder, sind sie doch schon lange in das eingegangen, was man im Englischen the collective memory nennt. Daraus schöpften dann auch nachfolgende Generationen von Fotokünstlern Mut, Kraft und Inspiration. Und so stehen Balthasar Burkhard und seine großformatigen Fotografien exemplarisch für die Schweizer Fotografen, die als „nächste“ Generation das Momentum der Nachkriegsfotografen aufgenommen und verinnerlicht haben, und die auch versuchten, prägend statt nur geprägt fotografisch zu wirken und sich dabei dann auch nicht von echten oder sprichwörtlichen Bergen aufhalten ließen.
Gefragt, warum ich nun in Zeiten täglicher Kunstbilderberge eine eher klassische Fotoausstellung mit vergleichsweise ruhigen Schwarz-Weiss-Fotografien etablierter Künstler kuratiere, antworte ich auch hier mit “Dèyè mòn gen mòn “ ... denn nach jeder Generation, die die Arbeiten wegweisender und geschichtsschreibender Fotografen kennen- und schätzen gelernt hat, kommt auch wieder eine junge Generation, deren geschichtlicher und kunsthistorischer Wissensstand bei Null anfängt. Und statt Ihnen immer nur wieder atemlos gegenwärtigste künstlerische Positionen mit den aktuellsten bildgebenden und bildvermittelnden Technologien vorzusetzen, bin ich eher geneigt, periodisch aufzuzeigen, woher die Fotografie kommt und welche künstlerische Positionen sie beeinflusst hat—und umgekehrt—, aus welchem Kontext und welcher Geschichte sie sich zu dem entwickelt hat, was sie heute ist ... oder eben auch damit zu hinterfragen, wohin sie sich vielleicht in unserem Zeitalter der ständigen Inszenierungen und der Selfies verirrt hat. Ich glaube nämlich auch, wie die hier versammelten Fotografen, weiterhin an das Potenzial der Kunst und insbesondere der Fotografie, unser Weltbild und damit unsere Einstellung gegenüber abgebildeten Menschen, Ereignissen und Orten konstruktiv zu beeinflussen. Ich glaube, dass die Fotografie in der Vergangenheit des abgelichteten Augenblicks einen Funken Utopie trägt ... dass sie uns zeigt, dass irgendwo hinter den Bergen das Meer liegt!